Bisher lag mein tägliches Pensum bei ca 50-60 km pro Tag. Wenn ich mal 70 km geschafft hatte, war das schon etwas, worauf ich sehr stolz war. Mich drängte der Gedanke daran, meine Grenzen auszutesten. Was kann ich an einem Tag schaffen? Ich bemerkte ein Muster, welches mich tagtäglich beim Fahren begleitete. Die ersten 15-20 km konnte ich meist ohne große Stopps und Beschwerden durchhalten. Nach 20 km fingen dann aber meistens die kleinen Wehwehchen an sich bemerkbar zu machen. Die Handgelenke fingen an weh zu tun, der Rücken, der durch die gebückte Haltung schmerzte und natürlich mein Allerwertester, der sich nach einiger Zeit meldete und bis zum Ende des Tages weiterhin weh tat. In den meisten Fällen in denen ich danach anhalten musste, lag das nicht an der körperlichen Anstrengung, sondern an den immer schlimmer werdenden Schmerzen im Hinterleib. Das war so gesehen der Hauptfaktor, der mich irgendwann am Weiterfahren hinderte.
Trotzdem wollte ich es probieren. Gegen 11 Uhr morgens machte ich mich auf dem Weg. Vielleicht lag es an der frisch gewonnenen Motivation, aber ich schaffte 40 km in etwas mehr als zwei Stunden. Ich hielt an, um eine etwas größere Pause ein zu legen, fuhr aber nach kurzer Zeit wieder los. Grund dafür war das Wetter. Es herrschten Temperaturen um die 5 Grad und es wehte ein eisiger Wind. Diese Kombination brachte es fertig, mich nach wenigen Minuten vollkommen auskühlen zu lassen. Es war ein Dilemma. Wenn ich über längere Zeit fuhr, wurde mir oftmals so warm, dass ich mich immer weiter ausziehen musste. Bei Pausen zog ich wieder alles an und fror trotzdem. Deswegen machte ich viele kleine Pausen. Obwohl der Tag so gut angefangen hatte, brachten es die Schmerzen in meinem Hinterteil fertig, mich an einer langen Weiterfahrt zweifeln zu lassen. Zu allem Überfluss fing der kontinuierliche Nieselregen an sich zu einem Unwetter zu entwickeln. Also fand ich mich nach ca 70 km auf einer vielbefahrenen Landstraße mitten im Nirgendwo wieder. Diese hatte ich gewählt, nachdem mich mein Navigationsgerät mitten auf eine Sandpiste in einem Sumpfgebiet geführt hatte. Der daraufhin folgende Umweg war 15 km lang. Einerseits, froh darüber eine gute Straße zu haben, war ich andererseits vollkommen mit dem Verkehr überfordert. Irgendwann forderte dann die enge Landstraße ihren Tribut. Bei einigen LKWs bildete sich beim Überholen ein starker Windzug, der mich wie einen Sog erst an das Fahrzeug ran und dann wegschleuderte. Außer verkrampft das Lenkrad fest zu halten, kann man da nicht sehr viel tun. Genau das musste ich dann auch beim nächsten LKW feststellen. Dieser überholte mich unglaublich nahe und der Windzug beförderte mich vom Straßenbelag hinunter. In der gleichen Sekunde riss ich mein Lenkrad nach links, um wieder auf die Straße zu kommen. Als Resultat stellte sich das Lenkrad quer und das Fahrrad flog, sich bei 20 km/h drehend auf die Straße zurück. Ich schlitterte einige Meter den Asphalt entlang und blieb dann liegen. Die Cleets an meinen Schuhen hatten mich beim Sturz daran gehindert, mich vom Fahrrad los treten zu können, da diese immer noch an den Pedalen befestigt waren. Unter meinem Fahrrad liegend realisierte ich langsam was geschehen war und versuchte heraus zu finden, was für einen Schaden das Fahrrad und ich genommen hatten. Glücklicherweise kam hinter mir niemand. Wäre hinter mir ein weiterer LKW gekommen, hätte das ein durchaus schlechteres Ende für mich nehmen können. Bei näherer Betrachtung fand ich heraus, dass ich keine ernsthaften Verletzungen hatte. Neben einigen Schürfwunden, leicht geprellten Rippen und einem schmerzenden Handgelenk, war alles in Ordnung. Nur der Schock saß mir noch tief in den Knochen. Mein Fahrrad schien auf den ersten Blick durchaus mehr abbekommen zu haben. Neben Kleinigkeiten, wie einigen Kratzern und einem abgebrochenen Spiegel musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass die eine Seite meines Lenkers vollkommen verbogen war. Darüber hinaus machte das linke Pedal knackende Geräusche und lief nicht mehr ordnungsgemäß. Ich verfluchte Gott und die Welt, sowie die gesamte Tour. Wie konnte mir sowas nur nach gerade mal zwei Wochen passieren? Erst später realisierte ich dann, was für ein Glück ich gehabt hatte. Dieser Unfall hätte mein Fahrrad komplett zerlegen oder mich im schlimmsten Fall sogar umbringen können. Der Spiegel war schnell wieder rangebastelt, das Pedal tausche ich in der nächsten Großstadt aus und den Lenker lasse ich wieder gerade biegen. Die Tour kann weiter gehen. Aber hej, nach dem Unfall fuhr ich noch 30 km bis in den nächst größeren Ort. Damit hatte ich meinen Rekord gebrochen und war 105 km an einem Tag gefahren.
Schneesturm:
An den folgenden Tagen wurde das Wetter immer schlechter. 70% des Tages regnete es und es war unfassbar kalt. Hoch lebe der Norden! Mit dem Überschreiten der Grenze nach Litauen änderte sich auch schlagartig die Landschaft. Die ewig geraden Straßen in Polen wurden durch ein ständiges hoch und runter in Litauen abgelöst. Wie konnte sich das nur so schlagartig ändern? In Polen hatte ich kaum Steigung und in Litauen grenzte es an ein Wunder mal 1 km ohne sichtbare Steigung zu fahren. Aus unerklärlichen Gründen beflügelte mich aber das Wissen in einem neuen Land zu sein. Ein Land in dem man wieder mit dem guten alten Euro bezahlen konnte. Ich steigerte meine Durchschnittskilometerzahl auf 60-70 km pro Tag. Es herrschte ein Kontrast zwischen Sonne und Regen. Im Verhältnis 30 zu 70.
Vilnius, die Hauptstadt von Litauen rückte auch immer näher. Irgendwann war sie noch eine Tagestour von mir entfernt. Ich baute mein Zelt auf und legte mich guten Gefühls schlafen.
Das ich mehrere Male durch ein klammes Gefühl nachts wach wurde irritierte mich etwas, hinderte mich aber nicht daran, zu versuchen weiterzuschlafen. Als ich dann morgens wach wurde stellte ich entsetzt fest, dass alles um mich herum nass war. Einige Spannungseile des Zeltes hatten sich Nachts gelöst und sorgten dafür, dass sich das Außenzelt an das Innenzelt legte. Dadurch war es dazu gekommen, dass der Regen in den Innenraum des Zeltes gelangte. Mein Schlafsack war nass, meine Klamotten waren nass, eigentlich war so ziemlich alles nass. Draußen fing es zu allem Überfluss an zu stürmen. Nachdem ich mich in meine nassen Sachen gezwungen hatte, fing ich an alles einzupacken. Aus dem Zelt kletternd stellte ich fest, dass es sich nicht um gewöhnlichen Regen, sondern um Schneeregen handelte. Ein Blick auf das Thermometer, 1 Grad Celsius.
Samt vollbeladenem Fahrrad machte ich mich auf dem Weg. Das Schlimmste waren die Hände. Meine Handschuhe waren durchweicht und fingen bei den Wetterbegebenheiten an zu frieren. Meine Finger offenbar gleich mit. Selten habe ich in meinem Leben so gefroren, wie an diesem Tag. Und wenn, dann mit dem Wissen, dass irgendwo ein warmes Haus auf mich wartete. Das war hier nicht der Fall.
Nach nicht einmal 4 Kilometern musste ich anhalten, um etwas gegen meine unterkühlten Finger zu tun, die ich aufgehört hatte zu spüren. Die Handschuhe ausziehend bemerkte ich, dass ich so ziemlich sämtliches Gefühl in den Fingern verloren hatte. Ich steckte sie unter meine Arme und wartete. Parallel dazu fing der Schneeregen an sich zu einem Schneesturm zu entwickeln. April April. Ab so fort mein Hassmonat des Jahres.
Nach einigen Minuten kam das Gefühl in meinen Fingern wieder. Dieses äußerte sich in einem starken Brennen. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand alle Fingernägel gezogen. Ich musste feststellen, dass alles zu weit gegangen ist. Ich wollte auf dieser Tour meine Grenzen kennen lernen. Diese hatte ich jetzt definitiv erreicht. Trotzdem blieb die Frage offen, wie es weitergehen sollte. Bis zum nächsten größeren Ort waren es noch 10 Kilometer. Mir blieb keine andere Wahl, ich musste weiter. Meine nassen Handschuhe verstaute ich und holte meine Beinlinge heraus. Diese wickelte ich mir um die Hände und steckte diese dann wiederum in Plastiktüten. So würde es gehen müssen. Beim Weitermachen machten sich dann meine Füße bemerkbar, die trotz der ständigen Bewegung, immer tauber wurden. Dagegen konnte ich nichts machen. Also fuhr ich weiter und versuchte beim Treten der Pedale die Zehen zu bewegen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich dann in dem Dorf an und suchte nach einem Zufluchtsort. Außer einer Bushaltestelle fand ich nichts. Meine Zehen fühlten sich wie Eisklumpen an und meinen Fingern ging es nach der Fahrt auch nicht viel besser. Ich konnte nicht mehr weiter. Ich war fertig. Das Navigationsprogramm zeigte mir einen Bahnhof im nächsten Ort an. Das war es. Diesen galt es zu erreichen. Ich kratzte alle Reserven zusammen, die ich noch hatte und fuhr die 5 Kilometer dorthin.
Im warmen Bahnhof sitzend, mit einem Ticket in der Hand musste ich mich zusammenreißen nicht einzuschlafen. Eine Stunde später nahm ich dann den Zug, welcher mich die letzten 48 Kilometer nach Vilnius brachten. Dafür schäme ich mich auch nicht. Ich hatte meine körperlichen Grenzen herausgefunden und sogar noch ausgereizt. Und was sind schon 50 Kilometer bei fast 12.000.
Lumi April 24, 2017
Lieber Sidney,
Ich habe mir heute Deinen Blog zum ersten Mal durchgelesen und ich finde es bewundenderswert und faszinierend, wie Du die ganzen Situationen bis jetzt gemeistert hast. Respekt!
Wir kennen uns persönlich noch nicht, Kai hat mir viel von Dir und Deinem großen Ziel erzählt.
Du schreibst unglaublich fesselnd….weiter so!
Ich wünsche Dir viel Glück und drücke Dir die Daumen! Pass auf Dich auf!
Lumi
Annette April 19, 2017
Hallo Sid! Also erst einmal: Chaupeau! Wir drücken dir die Daumen, dass du gut und, vor allem(!), sicher (!!!)weiter kommst! Klasse, was du bis jetzt geleistet hast!
Hier, in Berlin, hat es heute auch noch einmal geschneit. Hoffentlich das letzten Mal! Also: Zähne zusammen beißen, auf milde Temperaturen hoffen und weiter in die Pedale treten! Es kann nur besser werden! Zumindest Wetter-technisch…die Sache mit den Schmerzen im Allerwertesten…nun ja..da hilft wahrscheinlich auch nur weiterfahren! Es wird sich lohnen!
Pass auf dich auf! Wir drücken dir weiterhin die Daumen und denken an dich!
Liebe Grüße Amélie und Annette