Die letzten 40 km zur russischen Grenze erwiesen sich als größere Herausforderung als gedacht. Bereits nach einigen Metern wurde mein Enthusiasmus von dem bisher stärksten Gegenwind auf meiner Tour gebremst. Ich quälte mich mit vollem Krafteinsatz Meter für Meter die gebirgslastige Straße hoch und runter. Nach drei bis vier Stunden hatte ich dann 35 km geschafft. Näher sollte ich ohnehin nicht an die Grenze ran, also suchte ich mir einen Platz zum Zelten. Die Nacht war kalt und der Untergrund hart und so ließ der Schlaf die ganze Nacht auf sich warten. Morgens um 8 stand ich auf und packte alles zusammen. Das Messer, sowie das Pfefferspray stopfte ich in meinen Schlafsack in die vorgesehene Hülle. Ich wollte nicht riskieren meine einzigen Verteidigungsmöglichkeiten zu verlieren und betete, dass die Grenzer die Taschen nicht zu gründlich durchsuchen würden.
An der Grenze angekommen musste ich an unzähligen Stationen meinen Pass vorzeigen und erklären was ich in Russland wolle. Erst dann ließen mich die lettischen Grenzbeamten auf die russische Seite. Dort begann das gleiche Prozedere von vorne. Nur deutlich gründlicher. Zum Glück schien eine Grenzbeamtin gefallen an meinem Projekt gefunden zu haben und half mir bei den einzelnen Stationen. An der vorletzten Station wollte der Grenzbeamte, dass ich meine Taschen öffne. Als ihn das was er sah offenbar zufrieden stellte, ließ er mich weiter. Anschließend durfte ich Bekanntschaft mit einem Drogenspürhund machen der sich null für mein Fahrrad interessierte. Also weiter. An der letzten Station nochmal alle Dokumente vorzeigen und dann war ich drin. Ich war tatsächlich in Russland! Ich fuhr weitere 30 Kilometer bis zum Bahnhof von Sebesh. Von dort aus wollte ich den Nachtzug nach Moskau nehmen. Von Moskau geht dann ein Zug nach Oriol. Dem Ort, an dem ich zum gleichen Zeitpunkt gewesen wäre, wenn ich nicht den riesigen Umweg um Weißrussland hätte nehmen müssen.
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Die nette Bahnhofsangestellte verkaufte mir das Ticket und zeigte mir einen Platz, an dem ich mich samt Fahrrad niederlassen konnte. Es war 14 Uhr und mein Zug würde erst um 23:54 kommen. Nach einigen Stunden kam die Frau vom Schalter zu mir und erkundigte sich, wann ich denn mein Fahrrad auseinander bauen würde. Wie bitte? Ja, dass ist Vorschrift und außerdem brauche ich noch ein Ticket für das Fahrrad. Sie hatte doch vorhin das Fahrrad gesehen, warum kam sie dann erst jetzt auf den Gedanken, mir ein passendes Ticket zu verkaufen? Bei dem Versuch ihr zu erklären, dass ich mein Fahrrad nicht auseinander bauen könne und würde, fing sie dann an mit Google-Translator zu übersetzen. Eine Bekannte, die russisch sprach, konnte telefonisch weiterhelfen. Am Ende hieß es, ich könne das Fahrrad so lassen, muss aber das Ticket kaufen. Na also! Allerdings würde ich das Ticket erst um 22 Uhr bei ihrem Kollegen kaufen können, da sie jetzt Feierabend macht. So setzte ich mich wieder hin und wartete.
Um 18 Uhr kam dann Hova mit seiner Familie. Vorher war ich die ganze Zeit über der Einzige dort gewesen. Hova stammt aus Armenien und stellte mir seinen 6-jährigen Sohn, sowie seine Frau vor. Mit Hilfe von Fotos zeigte er mir, dass er Baggerfahrer war und einen deutschen BMW fuhr. Nach einiger Zeit baten sie mich darum, auf den kleinen hyperaktiven Bengel aufzupassen, während sie einkaufen gingen. Gesagt getan. Ich musste aber nach kürzester Zeit feststellen, dass ich keine Ahnung hatte, was man mit einem 6-Jährigen ohne Spielzeug anstellen soll. Ich drückte ihm meinen Notizblock samt Stift in die Hand und half ihm beim Malen. Der kleine quiekte und druckste vor sich hin und fing an mich auf armenisch zu zutexten. Am Ende kletterte er, so halb gegen meinen Willen, auf meinen Rücken und tronte da vor sich hin. Nach 20 Minuten erlösten mich seine Eltern. „You children Sidney chan?“ „No!“. Das hat definitiv noch Zeit! Ab da wurde ich zu „Sidney-chan“, was offenbar soviel wie Freund heißt. Auf den Bänken wurde anschließend das Gekaufte ausgepackt. Ich wurde herzlich eingeladen mit zu essen. Ein Nein kam nicht in Frage. Nach dem Essen gab es Sonnenblumenkerne, die man mit den Zähnen spalten musste, um an die leckeren Nüsse heran zu kommen. Die drei waren wahre Weltmeister darin und während ich eine geknackt hatte, hatten sie bereits 5 vertilgt.
So schritt die Zeit schnell voran und um 22 Uhr kam die besagte Kollegin. Nebenbei füllte sich das kleine Bahnhofsgebäude nach und nach. Die Frau am Schalter fing an, mehrere Ordner durch zu wälzen und begann zu programmieren. Ich verstand die Welt nicht mehr. Sie konnte kaum Englisch und sagte nur immer wieder „Ticket no problem“. Eine geschlagene Stunde später gab sie es auf und sagte mir, dass ich mir das Ticket im Zug kaufen solle. Na was auch sonst. Um 23:45 wurden wir dann zum Zug gelassen, der dort seit einer Stunde stand und durchsucht wurde. Sebeth war offenbar die erste Station auf der russischen Seite. Der Zug war bereits voll mit Leuten und kam ursprünglich aus Riga (Lettland). Ich schob mein
Fahrrad zu meinem Wagon und stellte entsetzt fest, dass die Tür unglaublich eng, und der Wagon unglaublich hoch gelegen war. An der Tür stand ein Schaffner und rollte mit den Augen. Der Versuch das Fahrrad alleine die enge Treppe hoch zu hieven scheiterte kläglich. Auf der halben Höhe fand ich mich feststeckend wieder. Ich fragte den Schaffner, ob er mir helfen können.Ein kurzes aber bestimmtes „No“ war die Antwort. Erst nachdem ich mich deutlich aggressiver wiederholte, half er mir dann widerwillig. Im Wagon schloss er dann die Tür und erklärte mir, dass das Fahrrad hier nicht stehen könne. Auf meine Frage, wo es denn sonst hin solle und das mir die Verkäuferin diesen Platz ausdrücklich zugewiesen hat, zuckte er nur die Schultern und sagte wieder „No“. Wir standen mehrere Minuten lang diskutierend da, bis er mich überredete zumindest die Taschen zu meinem Schlafplatz zu bringen. In meiner Kabine, wenn man es denn so nennen kann, traf ich auf Olga. Eine deutsch sprechende Russin. Sie fungierte als Dolmetscher und erklärte mir, dass der Schaffner kurz davor war mich wieder abzuladen. Wichser! Man kann sich vorstellen, welch „prächtige“ Laune ich hatte. Nach langem hin und her war ich gezwungen mein Fahrrad auf das oberste leere Bett zu legen. Sofort kamen mehrere Mitreisende zur Hilfe. Alleine hätte ich es nicht geschafft. Vollkommen erschöpft saß ich neben Olga, die mir versprach, am nächsten Tag beim Abladen zu helfen. Olga war eine reiselustige, gut gelaunte ca.70 Jahre alte Pensionärin, die ebenfalls auf dem Weg nach Moskau war.
Ich erzählte ihr von meinen bisherigen Erlebnissen, die sie sehr zu begeistern schienen. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass alles gut wird, sofern man nur daran glaubt. Ich solle mir auch keine Sorgen machen, da ich mehrere Schutzengel hätte, die stetig über mich wachen. Irgenwie tat mir dieses Gespräch mit dieser sehr weisen Frau gut. Um kurz vor 1 Uhr legten wir uns dann in die Betten. Unten lagen sie und ein anderer Russe und oben lag ich. An Schlaf war aber wieder nicht zu denken. Die Betten war 1.70 m lang, da neben den Kabinen nicht nur der Gang, sondern noch weitere Betten untergebracht waren. 3. Klasse eben. Der Gedanke an ein hektisches Ausladen am nächsten Tag machte die Situation nicht gerade besser. Also lag ich den Rest der Nacht wach oder lief durch den Zug. Am nächsten Morgen teilten Olga und der Russe ihr Frühstück mit mir und wieder gab es tiefsinnige Gespräche. In Anbetracht der Tatsache, dass ich seit
Wochen kein richtiges Gespräch mehr hatte, tat das wirklich sehr gut. Gegen 9 Uhr erreichten wir dann die Vororte von Moskau. Es lag Schnee… Um 10 Uhr kamen wir dann in Moskau an und ich eilte mehrere male rein und raus, um alles rechtzeitig aus dem Zug zu bekommen. Olga erklärte die Situation der Schaffnerin, die den Zug nicht weiterfahren lies, bis ich alles drauSen hatte. Zusammen gingen wir in das kalte Bahnhofsgebäude wo Hova und seine Familie schon warteten. Offenbar sah er mir meine Erschöpfung an, da er besorgt guckte und mir anbot mir einen Kaffee zu kaufen. Ein Bekannter von Mama hatte mir um 9:30 geschrieben, dass er mir ein billiges Hotel besorgen würde. Also wartete ich. Olga und Hova verabschiedeten sich irgendwann und gingen ihrer Wege. Ich saß weiterhin frierend und übermüdet im Bahnhof. Seit zwei Nächten kein Schlaf und dann der Stress. Nach drei Stunden vergeblichen Wartens hatte ich keine Lust mehr und begab mich selber auf die Suche. Im ersten Hotel konnte keiner ein Wort Englisch und im zweiten wollten sie mein Fahrrad nicht. Ich schwor mir das nächste Hotel, welches mich reinlassen würde, zu nehmen. Ich wollte nur noch in ein Bett. Das Nächste und Einzige weit und breit war ein „Holiday Inn“. Sie erlaubten mir sogar mein Fahrrad mit aufs Zimmer zu nehmen. Perfekt! Auf die Frage wie viel das kosten würde, bekam ich natürlich die Zahl in Rubel genannt. Ja das würde schon passen. Auf dem Weg ins Zimmer rechnete ich es mir dann doch aus. Ich hatte gerade 120 Euro für eine Nacht ausgegeben. Scheiße! Ich werde also bei anderer Gelegenheit sehr sparen müssen. Egal – das Bett war gut und ich schlief direkt ein. Am nächsten Morgen ging ich dann in das Hostel, dass mir von Mamas Bekannten organisiert wurde. 30 Euro pro Nacht für ein Zimmer für mich allein in Moskau war denkbar akzeptabel.
Hier blieb ich die kommenden zwei Tage. Gestern war ich auf Erkundungstour.. Ich wollte zum Kreml. Ich stieg in einen Bus, der aber nach einiger Zeit links abbog. Also lief ich die letzten 3 Kilometer.
Mittlerweile war es herrlich warm. 20 Grad und Sonne. Ist das der Anfang vom langersehnten Sommer?
Amelie Mai 3, 2017
Hallo Sidney, ich bin so stolz auf dich! Du bist so ein großes Vorbild für mich! Deine Reiseberichte sind so spannend geschrieben und lassen mich immer wieder staunen!
Alles, alles Liebe und viel Glück!
Deine Amelie
Lumi Mai 1, 2017
Super durchgekommen!
Die Menschen da sind gastfreundlich und warmherzig….auch wenn sie etwas anders wirken. :-))
Viel, viel Glück und schöne Erlebnisse!
Jette Mai 1, 2017
Deine Reiseberichte sind so fesselnd! Immer wenn Kai deine Berichte teilt, lese ich sie sofort und lass alles andere warten. Es ist so schön, dich begleiten zu können. Viel Glück weiterhin und vor allem mehr Wärme.